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Katholische Betriebsseelsorge
Diözese Rottenburg-Stuttgart
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Betriebsseelsorge-Schild
Ulm
Jubiläum
28.12.2020

Drei kostbare Erinnerungen von Paul Schobel

50-Jahre Betriebsseelsorge Ulm

Paul Schobel ehemaliger Betriebsseelsorger in Böblingen und später Leiter der Betriebsseelsorge Rottenburg-Stuttgart berichtet sehr unterhaltsam von den Anfängen der Betriebsseelsorge Ulm. Wo Zeitzeugen bereits verstorben, erinnert er sich noch genau:

Drei kostbare Erinnerungen

Seit einem halben Jahrhundert steht nun dieses Label namens „Betriebsseelsorge“ in Ulm für „Kirche in der Arbeitswelt“: Kampf um Recht und Würde für Menschen mit und ohne Arbeit. Einsatz für die „Mühseligen und Beladenen“ von heute, die Verlierer und Abgehängten. Kritik an sündhaften Strukturen und biblisch-parteiliche Intervention für die Armen.

Wie alles einst begann

Ich erinnere mich noch gut an die Anfänge in Ulm. Ich war Diözesankaplan der CAJ in Wernau, als mich eines Tages im Jahr 1970 zwei junge Ordensleute überfielen. Es waren die beiden Redemptoristen Hagen und Sina, die frisch gebackenen Ulmer Betriebsseelsorger. Da hatten zwei „68er“ in mir einen dritten gefunden.

Wer der Geschichte der Ulmer Betriebsseelsorge nachspürt, kommt um eine „Marke“ namens Richard Hanslovsky nicht herum. Das war der langjährige Ulmer Volksbüroleiter. „Volksbüro“ –  klingt leicht chinesisch. Und war ursprünglich auch so gemeint: Kirchliche Büros für Beratung und Hilfestellung für die „kleinen Leute“ der Nachkriegszeit, Flüchtlinge, Arme, Arbeiterinnen und Arbeiter. Schade, dass die Volksbüros später zu „Dekanatsbüros“ umfunktioniert worden sind! Aber das nur am Rande. Hanslovsky – selbst Heimatvertriebener – war in der ganzen Diözese geschätzt, aber mehr noch gefürchtet. Vor allem wegen seiner abenteuerlichen Alleingänge, die auch die „Rottenburger“ fast zur Verzweiflung brachten! Er hatte Kontakt zur Betriebsseelsorge in Linz und vor allem zur Betriebsgemeinde im Stahlwerk VOEST. Dieser Ansatz hat ihn so fasziniert, dass er kurzentschlossen und ohne Rücksprache mit dem damaligen diözesanen Betriebsseelsorger Wolfgang Gaugler in Stuttgart, 1970 die beiden Ordensmänner Hagen und Sina als Betriebsseelsorger in Ulm installieren ließ. Unter seiner Obhut, versteht sich! Vermutlich haben sich die beiden Patres mit diesem System nicht so recht arrangieren können. Was Genaues weiß man nicht. Auf jeden Fall verschwanden sie wieder so schnell, wie sie gekommen waren.

Erneut im Alleingang gewann Hanslovsky 1971 den schon etwas älteren Redemptoristen Alfred Sirch als Nachfolger in der Betriebsseelsorge in Ulm und um Ulm herum. Und nun kommen Wolfgang Gaugler und ich ins Spiel. Ich war 1972 zum „Nationalkaplan“ der CAJ gewählt, aber von der Bischofskonferenz nicht ernannt worden – warum auch immer. Nun bekam ich Druck, als Pfarrer eine Gemeinde zu übernehmen. Ich weigerte mich und war auf dem Weg, „Arbeiterpriester“ nach französischem Vorbild zu werden, als mich eine Gruppe von Gemeindepfarrern in „Rottenburg“ als Betriebsseelsorger regelrecht „freipresste“. Da flogen die Fetzen, doch am 1. Januar 1973 trat ich – jetzt wieder als Vikar! - meine Stelle in Böblingen an. Wolfgang und ich besuchten noch im selben Monat Alfred Sirch in Ulm. So wurde seine Wohnung sozusagen zur Wiege des „Betriebsseelsorge-Teams“, das seitdem fast monatlich tagt und bis heute Drehscheibe und Angelpunkt für die ArbeitnehmerInnen-Pastoral unserer Diözese geblieben ist. Ohne dieses Team, das wir im Lauf der Jahre dann erweitern konnten, hätte die junge Betriebsseelsorge angesichts schwerer Widerstände damals gar nicht überlebt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Merke: Betriebsseelsorge läuft nur in einem verlässlichen Miteinander. Und darum ist mir diese Erinnerung so wichtig: Allein machen sie dich ein…

Arbeitskampf bei Video-Color

1977 hatte Diakon Werner Baur die Nachfolge von Alfred Sirch als Betriebsseelsorger übernommen. Sein erster und harter Arbeitseinsatz führte ihn zur ehemaligen Telefunken-Tochter Video-Color. In dieser Fabrik wurden die damals noch gläsernen und daher sehr schweren Bildschirme für das neue Farbfernsehen hergestellt. Nicht lange nach Werners Arbeitseinsatz in dieser Firma trat der berüchtigte französische Raub-Konzern Thomson-Brandt auf den Plan. Er übernahm das Werk in der Absicht, es zu zerschlagen. Scharf war man nur auf die Patente, die Produktionsanlagen und vor allem auf die Märkte. Es kam zu einem heftigen Arbeitskampf, in dessen Verlauf die Fabrik wochenlang Tag und Nacht besetzt worden war. Die ArbeiterInnen – unter ihnen auch Werner – schliefen nachts unter den Maschinen, um den Abtransport der Anlagen zu verhindern.  Auf dieselbe Art und Weise wurde übrigens auch die traditionsreiche und exzellente Radiofabrik Saba in Villingen niedergemacht.

Der erbitterte Arbeitskampf – angeführt vom ehemaligen Betriebsrat Berthold Huber, dem späteren IG Metall-Vorsitzenden in Frankfurt, löste eine Welle der Solidarität aus, ging am Ende aber trotzdem verloren. 1982 wurden die Lichter gelöscht, Video-Color war Geschichte. Über tausend Beschäftigte mussten nun zum Arbeitsamt.  

Und die Moral von der Geschicht? Ich erzähle sie, weil Betriebsschließungen und Arbeitskämpfe die härteste „Nagelprobe“ für Betriebsseelsorge sind. Wenn sie hier nicht an vorderster Front mitkämpft, kann sie einpacken. Dann bleibt alles, was wir sonst tun und reden, nur leeres Geschwätz. Was haben wir in all den Jahren mit den Menschen gezittert und geweint, wenn ihnen die Arbeit aus der Hand geschlagen wurde. Welche Wut kochte da in uns, wenn Arbeit um des Profits willen weggeworfen und Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt worden sind.

Merke: Betriebsseelsorge reißt es stets hinein in den Interessengegensatz von „Arbeit“ und „Kapital“. Sie kann sich gar nicht bedeckt halten, „sauber“ oder neutral bleiben. Kapitalismus, der das wertvolle Gut menschlichen Schaffens nur als Ware vermarktet und zur Gewinnmaximierung verwertet, ist Sünde, die wir um Gottes und der Menschen willen nicht hinnehmen dürfen. Die biblische Botschaft bestimmt hier die Agenda und zwingt uns an die vorderste Front, hin zu den betroffenen, betrogenen Menschen.

Das legendäre Ulmer „Mobbing-Schiff“

Ein drittes Ulmer Ereignis ist mir gut im Gedächtnis geblieben: Der Ulmer Katholikentag im Jahr 2004. Wir legten das Ulmer „Mobbing-Schiff“ auf Kiel. Wollten sehr sinnenfällig demonstrieren, was Mobbing am Arbeitsplatz mit den Menschen macht. Die Massenarbeitslosigkeit hatte damals auch das Musterländle voll im Griff. Wenn es eng wird, kann es passieren, dass der Mensch des Menschen größter Feind wird. Die Betriebsseelsorge hatte sich schon seit Jahren intensiv mit diesem Phänomen beschäftigen müssen. Es war also  nicht neu – Anmache am Arbeitsplatz und brutale Selbstbehauptung gab es schon immer. Aber bislang noch nie in diesem Ausmaß und mit so raffiniert ausgebufften Strategien.

Aber wie setzt man so was auf einem Kirchentag in Szene? Bitte nicht noch ein weiteres Forum! Kirchentage laufen davon über.

Kurzentschlossen wurde ein Donau-Ausflugsschiff gechartert. Werner und ich nahmen Kontakt auf mit der Ulmer DLRG und ihren Spezialisten. Ein junger Taucher war auch gleich bereit, sich auf das Abenteuer einzulassen. Unser Schiff lag gut sichtbar, beschildert und plakatiert am Ufer der Donau und legte dann an jedem Vormittag ab. Als „Mobbing-Schiff“ deklariert weckte es die Neugier vieler Menschen und war zumeist auch voll besetzt. An Bord – verdeckt und nicht erkennbar – eine Gang von Betriebsseelsorgern und ihren Helfershelfern, die nach einer kurzen Begrüßung der Gäste plötzlich damit begannen, einen jungen Mann heftig verbal zu attackieren, ihn zu beleidigen und mit sämtlichen Mobbing-Schikanen fertig zu machen. Der suchte verzweifelt, sich zu verteidigen. Die Anfeindungen wurden immer heftiger und drohten nun auch in physische Gewalt umzuschlagen. Man drängte das Opfer immer mehr in Richtung Reling, bis dem gar nichts anderes mehr übrig blieb, als mit einem kühnen Satz von Bord zu springen und sich in die Donau zu stürzen, wo er von seinen DLRG-Freunden aufgefischt wurde. Entsetzt schrien die Passagiere auf! So hatten wir augenfällig in Szene gesetzt, was damals in vielen Unternehmen bittere Wirklichkeit war. „Wir sind zu viele an Bord“, tönten Personalchefs und Betriebsleiter. Damit lösten sie automatisch aus, dass in den Belegschaften Schwache oder Starke – beides macht Sinn! - ausgeguckt und so lange schikaniert wurden, bis sie „freiwillig“ von Bord gingen. Elegant, wie man sich da Kündigungen ersparen konnte, das haben die Leute selber erledigt. Aber um welchen Preis? Menschen, die dabei innerlich zerbrachen. Nicht wenige, die an sich selbst zu zweifeln beginnen und fast verzweifeln. Seelisch gebrochen und körperlich ausgebrannt werden sie zu lebenden Wracks. Arbeitslos geworden sind sie kaum noch aus eigener Kraft in der Lage, wieder in Beschäftigung zu kommen.

Merke: Im diesem Fall wird Betriebsseelsorge ihrem Namen und ihrem Anspruch gerecht: Wir sind wir als SeelsorgerInnen gefragt, müssen zuhören, nachfragen, uns einfühlen und sorgsam erschließen, damit die Betroffenen sich öffnen, Vertrauen fassen, klagen und weinen können. Jede intensive Mobbing-Beratung wird zum Seelsorgegespräch, weil es letztlich immer um das ganze Leben geht, um Beziehungen und letztlich um Sinn. Schmerzlich wird es auch, wenn die Betroffenen ihre eigenen Anteile erkennen. Gleichzeitig verweist uns die Mobbing-Beratung wieder auf ungerechtfertigte Machtstrukturen, die solche Schikanen ermöglichen oder gar gezielt zum Einsatz bringen.

Drei Ulmer „Ereignisse“, die mir im Gedächtnis blieben und geeignet erscheinen, Betriebsseelsorge zu charakterisieren.

Von Herzen wünsche ich den Betriebsseelsorgerinnen und -seelsorgern – nicht nur in Ulm – Mut und Phantasie, das Begonnene fortzusetzen, aber auch nach neuen Wegen zu suchen, um Menschen mit und ohne Arbeit mit der befreienden Botschaft der Bibel nahezukommen.

Paul Schobel, ehemaliger Leiter der Betriebsseelsorge