Auf den Schultern von Riesinnen
"Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen". Mit diesem Satz bebildert man im Wissenschaftsbetrieb gern das Verhältnis zwischen dem, was man selbst gerade produziert und all den Erkenntnissen, die vorherige Generationen erlangt haben.
Von Riesinnen und Riesen war ich in meinen kurzen fünf Jahren in der Betriebsseelsorge umgeben. Menschen, die ganz alltäglich, an ihren Arbeitsplätzen, groß sind und Großes tun. Menschen auch, die durch das, was sie tun, (wieder) groß geworden sind. Menschen, die es nicht hinnehmen, dass sie klein gemacht werden und dass Andere kleingehalten werden. Menschen, die mich haben wachsen lassen.
Stark sind diese Riesinnen und Riesen, nicht weil sie kräftig sind, sondern weil sie sich nicht mit dem abfinden, was sie schwächen will. Stark sind sie, weil sie aufstehen und Nein sagen zu den Abgründen, zu den Verletzungen und Missachtungen, zu den Tricks und Listigkeiten, zu den Ungerechtigkeiten. Die gibt es, alltäglich, hier und jetzt. Gleich hinter den gläsernen Fassaden, in den hohen Häusern, auf den Gerüsten davor, zwischen den Regalen, an den Maschinen, Betten und Schreibtischen, auch bei den großen Schriftzügen kann man sie finden. Stark sind die Riesinnen und Riesen auch, weil sie nicht beim Nein bleiben, sondern Ideen vom Ja haben. Bei den Suchtkrankenhelfer:innen, im Pflegebündnis, in der Mobbing-Selbsthilfegruppe, bei den KABler:innen, der Caritas, den Gemeinwohlaktiven, in den Betriebs- und Personalräten, bei den Mitarbeitervertretungen, den Kolleg:innen in den Gewerkschaften, auch bei Vorgesetzten und in vielen, vielen Beratungsgesprächen war nie nur ein Nein, sondern immer auch ein Ja. Es gab allzu oft eine Idee vom Weiter, auch vom Würdiger und vom Gerechter – es gab eine Spur von Hoffnung und Zukunft. Auf diesen Schultern bin ich ein paar Jahre gesessen und sie haben auch mich getragen.
Die Orte, an denen ich den Riesinnen und Riesen begegnet bin, waren ganz unterschiedlich. Neben all den Gruppen, Kreisen und Partner:innen waren es auch die Kolleg:innen der Betriebsseelsorge, ganz konkret im Büro in Ulm, aber auch in der ganzen Diözese und meine Vorgänger, auf deren Schultern ich mich setzen konnte. Bei den Arbeitseinsätzen in den Betrieben bin ich Kolleginnen und Kollegen begegnet, deren Engagement sich nicht in den Gruppen, Kreisen und Organisationen rund um die Betriebsseelsorge wiederfand. Und auch hier war ich erleichtert über die Kollegialität, die Professionalität, die Menschlichkeit. Ob am Bett oder an der Schweißbank, ich wurde an die Hand genommen und nicht nur ich.
Kitschig klingt das alles, vielleicht auch naiv. Aber ich habe diese Menschen, die einander (er-)tragen, die Läden am Laufen halten und über sich hinauswachsen, gesehen. Ich habe mit ihnen gesprochen. Oft war ich von ihrer Größe beeindruckt und gleichzeitig von der Kleinlichkeit unserer Art zu wirtschaften, geschockt. Immer wieder hat mich befremdet, wie genau wir hinschauen bei Leistungssätzen und wie arg wir streiten müssen bei Mindestlöhnen und Tariferhöhungen. Dabei habe ich nie verstanden, wie viele Augen wir zudrücken bei sinnlosem Reichtum, verschobener Verantwortung, viel zu langen Hebeln für ein paar Wenige und dem zerstörerischen Tunnelblick des "Weiter so, es geht nicht anders".
Es muss anders gehen, davon bin ich überzeugt. Warum? Ich habe es selbst gesehen.
Mein Dank an alle, die es mir gezeigt haben.