Vom (Über-)Leben, Arbeiten und gewerkschaftlichem Engagement in den Zeiten von Corona
"Mich beschäftigt die Frage, wie die Gesellschaft "anders leben kann". Mit dem mexikanischen Theologen Pfr. Dr. Juan -Manuel Hurtado López im Gespräch.
Pfr. Dr. Juan-Manuel Hurtado López ist Pfarrer einer indigenen Gemeinde in Chiapas/Mexiko, Dozent für Theologie mit Schwerpunkt ‚Befreiungstheologie‘ und Mitarbeiter von Amerindia.
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die indigenen Völker in Chiapas aus?
Der Einfluss des Corona-Virus auf die verschiedenen indigenen Völker ist nicht einheitlich. Zu Beginn erhöhten die Geschäfte die Preise für Grundbedarfsgüter wie Mais, Bohnen, Toilettenpapier, Reis, Zucker und Öl um bis zu 100%. Dann organisierten sich die Menschen aber gegen die Händler und forderten ihr Geld zurück oder gaben die eingekauften Produkte zurück.
Hier im Dorf und in den Gemeinden sind keine Fälle von Corona-Virus-Infektionen festgestellt worden. In San Cristóbal gibt es 7 bestätigte Fälle und in anderen Städten einige mehr. In unserm Bundesstaat Chiapas sind bis heute 14 Personen an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben und 77 Infektionen entdeckt worden. Sowohl die Regierung als auch die Kirche haben Dokumente herausgegeben, die vor der Ernsthaftigkeit des Problems warnen, und das Motto lautet: "Bleib zu Hause!"
Wie reagieren die indigenen Gemeinden auf diese neue Situation....?
Die indigene Bevölkerung glaubte zunächst nicht, dass das mit COVID-19 tatsächlich wahr sei. Sie treffen sich noch immer zu ihren Gebeten, schütteln sich die Hände, viele kommen in den Transportwagen aus den Gemeinden in die Stadt, um einzukaufen und ihre Geschäfte zu erledigen. Auf dem Markt tätigen Sie die Einkäufe weiterhin, ohne auf die gebotene Distanz zu achten.
Von Seiten der Laienmitarbeiter*innen, des Bischof sowie der Pfarrer und Ordensleute haben wir alle Treffen, Kurse, Versammlungen und Gottesdienste (mit Beteiligung der Gläubigen), die wir geplant hatten, abgesagt.
Welche Art von Unterstützung kann die Kirche bieten?
Eine wichtige Form der Unterstützung sind klare und präzise Informationen über das, was geschieht, und die Bitte an alle Menschen zusammenzuarbeiten, um diese Pandemie zu stoppen. Wir bitten eindringlich darum, keine großen Versammlungen durchzuführen.
In den Pfarreien bieten wir täglich die Eucharistiefeier für Kleingruppen an: 3, 5, 7 Personen bei geschlossener Kirche. Die Eucharistiefeier wird auch täglich per Radio und an einigen Orten per Video übertragen.
Es gab Heilige Stunden vor dem Allerheiligsten Sakrament mit kleinen Gruppen.
Die Spender der Kommunion bringen auch weiterhin die Eucharistie zu den Kranken.
Juan-Manuel, was beschäftigt Dich als Theologe angesichts der Herausforderungen der aktuellen Corona-Situation?
Ich habe viele Fragen und wenige Antworten: Welche Auswirkungen werden die Isolation und die Trennung der Menschen haben, wenn das so weitergeht? Die wirtschaftliche Frage: Es gibt bei uns große Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Und das betrifft die Ärmsten. Wie können wir diejenigen schützen, die weniger haben?
Wir wissen, dass viele Unternehmen, Fabriken sowie kleine Werkstätten vor dem Ende stehen. Dasselbe gilt für Geschäfte, Restaurants, für Menschen also, die jeden Tag arbeiten, um etwas zu verdienen, damit sie etwas zu Essen zu haben. Es wird einen großen Mangel an notwendigen Gütern und an täglichem Brot geben. Dann ist da noch die Frage der virtuellen Teilnahme an den Gottesdiensten am Computer oder im Fernsehen. Was ist, wenn diese Pandemie vorüber ist und viele dann nur noch virtuell am "Gottesdienst" teilnehmen wollen?
Und ich gehe intensiv der Frage nach, ob und wie die Corona-Pandemie als ein Zeichen der Zeit diskutiert werden muss. Für mich steht das außer Frage. Ja, sie ist globaler Natur, weil sie ein ‚Vorher‘ und ein ‚Nachher‘ markiert, weil es einen Bruch in der Kontinuität der menschlichen Zeit gibt. Das wird vielen Menschen immer bewusster - anderen aber nicht, und sie denken, dass die Situation wie eine Grippe, eine medizinische Epidemie zu betrachten sei und irgendwann alles wieder zur früheren Normalität zurückkehren kann.
Mich beschäftigt sehr die Frage, wie die Gesellschaft und die Menschheit "anders leben" können bzw. müssen, um das neoliberale, kapitalistische, individualistische Lebenssystem wirklich zu verändern, in dem Güter um jeden Preis gehortet werden und der Konsum im Vordergrund steht, der doch die Mutter Erde schädigt. Ohne eine neue Kultur des Teilens und ohne Solidarität mit den heutigen Generationen und den zukünftigen Generationen wird das nicht gelingen. Für mich geht es um diese wichtige Frage: Die Verpflichtung, welche Lehren wir aus dieser Zeit ziehen, wird erweisen, ob die COVID 19-Pandemie ein Zeichen der Zeit ist oder nicht.
Hier geht es zur spanischen Fassung des Interviews: