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Katholische Betriebsseelsorge
Diözese Rottenburg-Stuttgart
Frau Ivanova Bulgarien
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Leitung
30.4.2020

Vom (Über-)Leben, Arbeiten und gewerkschaftlichem Engagement in den Zeiten von Corona

Stimmen aus der weiten Welt. Teil 2 - Bulgarien

"Wenn der Sturm kommt, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen. Und was wir bauen werden, hängt von jedem von uns ab!“

Mit der bulgarischen Gewerkschafterin Tsvetelina Ivanova im Gespräch

 

Tsvetelina Ivanova ist Präsidentin der Föderation unabhängiger Gewerkschaften im Bauwesen /FITUC/ in Bulgarien.

Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Arbeitnehmer*innen - in Deiner Fall auch auf die Bauarbeiter*innen - in Bulgarien? 

Der Ausnahmezustand betrifft natürlich die gesamte Wirtschaft, aber im Moment scheinen die meisten unserer Bauunternehmen den Arbeitsrhythmus beibehalten zu haben. Bislang gibt es keine Entscheidung des Staates, Bautätigkeiten auszusetzen, solange die Vorsichtsmaßnahmen für die Arbeitnehmer*innen eingehalten werden. Auch die Arbeiten an Wohngebäuden in den Städten wurden nicht eingestellt. Die Besonderheit der Bautätigkeit bedingt, dass diese eben nicht von zu Hause aus durchgeführt werden kann, aber die Organisation der Arbeit auf den Baustellen, insbesondere bei Arbeiten im Freien, kann so gestaltet werden, dass alle vom Staat gestellten Anforderungen erfüllt werden.

Bei den Unternehmen der Branche gibt es jedoch Sorgen. Einerseits hängen sie mit dem Zeitplan von Förderprogrammen zusammen, weil die Bautätigkeiten hinter dem Finanzierungszeitplan aus Mittel europäischer Fonds zurückbleiben. Zum anderen geht es darum, was mit dem öffentlichen Auftragswesen geschehen wird und ob der wirtschaftliche Einbruch letztlich zum Stillstand bei Bauvorhaben der öffentlichen Hand führen wird. Unsere Sozialpartner, insbesondere die Bulgarische Baukammer, vertreten ebenfalls den Standpunkt, dass die Bautätigkeiten fortgesetzt werden sollten.

Die Aktivitäten auf den Baustellen werden entsprechend der Vorgaben, der Verwendung von Desinfektionsmitteln und Masken, und der Regeln für die Verteilung der arbeitenden Personen fortgesetzt, um den notwendigen Abstand zwischen ihnen zu wahren. Wir haben die wichtigsten Empfehlungen zum Schutz vor dem Corona-Virus an unsere Mitglieder und an alle Arbeiter weitergegeben. Zu diesem Zweck haben wir auch die Unterstützung der Ausschüsse/BR-Gremien und Arbeitsgruppen in den jeweiligen Unternehmen an den Orten, wo es sie gibt, in Anspruch genommen. Die Unternehmen werden einmal oder mehrmals wöchentlich auf die Einhaltung dieser Maßnahmen überprüft.

Für Außenstandorte wurden Optimierungen in Bezug auf die staatlichen Empfehlungen vorgenommen. Bei den Pausen und Mahlzeiten der Bauarbeiter wird der Grundsatz des Nicht-Eindringens von fremden Personen in Räumlichkeiten und an Arbeitsplätzen beachtet. Vor Beginn der Arbeiten wird eine elektronische Messung der Temperatur am Eingang des Unternehmens durchgeführt. (…)

 

Was ist Dein Beitrag als Gewerkschaftspräsidentin / wie unterstützt die Gewerkschaft die Beschäftigten in dieser Zeit? Was brauchen die Arbeitnehmer*innen?

 

Seit zwei Jahren schlägt der Bund Unabhängiger Gewerkschaften in Bulgarien vor, das Mindestarbeitslosengeld, das 9 BGN pro Tag beträgt, zu erhöhen, da das jetzige Mindestarbeitslosengeld (MAG) nicht dem entspricht, was das Gesetz festgelegt: 60 % des Einkommens, für das der Arbeitnehmer sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Dann läge das MAG nämlich bei 360 BGN und nicht wie derzeit bei unter 200 BGN. Damit würde  jenen Gerechtigkeit widerfahren, die den Mindestlohn bezogen haben. Diejenigen, die aus dem einen oder anderen Grund keinen Zugang zu Sozialleistungen haben, sollten Essensgutscheine in Höhe von mindestens 60% des Mindestlohns erhalten. Diese Maßnahme sollte sofort umgesetzt werden, damit diese Menschen wenigstens etwas zum Essen haben. (…)

Die FITUC-Expert*innen in Sofia und im ganzen Land engagieren sich beruflich und persönlich im Kampf gegen die Krise. In vielen Städten haben unsere regionalen Strukturen Hotlines installiert, über die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kostenlose Beratung zu Fragen der Beschäftigung und der sozialen Sicherheit erhalten können. So kann jeder in einer schwierigen und unsicheren Situation Klarheit über seine Arbeitsrechte und, falls erforderlich, Schutz erhalten. Anrufe werden von 9.00 bis 18.00 Uhr beantwortet. (…)

 

Wie feiert Deine Gewerkschaft den 1. Mai - was sind die Hauptforderungen?

In diesem Jahr steht der CITUB hinter der Aussage der ITUC (Internationaler Gewerkschaftsbund), dass wir am 1. Mai die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegewesen in den Vordergrund stellen, deren Arbeit wesentlich dazu beiträgt, Leben zu retten und lebenswichtige Produkte und Dienstleistungen bereitzustellen.

Zehntausende von Menschen sind gestorben und viele weitere werden dauerhafte gesundheitliche Auswirkungen erleiden. Es wird prognostiziert, dass 200 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen werden, Millionen sind der Gefahr ausgesetzt, wieder in die Armut zurückgeworfen zu werden, und die bereits bestehende enorme Ungleichheit wird weiter zunehmen. Zwei Drittel der Weltbevölkerung mit unzureichendem oder gar keinem Sozialschutz sind stark gefährdet, viele sind von Armut und Hunger bedroht.

Die Auswirkungen dieser Krise haben die Schwächen des Globalisierungsmodells, das den arbeitenden Frauen und Männern aufgezwungen wurde, auf brutale Weise offenbart. Die öffentlichen Gesundheitssysteme wurden durch Sparmaßnahmen geschwächt, und die Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte gefährdet Millionen von Arbeitnehmer*innen. Frauen, Wanderarbeiter, ethnische Minderheiten und andere, die Diskriminierung ausgesetzt sind, tragen eine besonders schwere Last. Das muss sich ändern.

Alle Länder müssen zusammenarbeiten, um die COVID-19-Welle zu überwinden und sich auf die Zukunft vorzubereiten. Wir unterstützen die Regierungen, die den sozialen Dialog in vollem Umfang nutzen, um die Krise zu bewältigen und die Löhne und Einkommensunterstützung für ihre Bevölkerung zu sichern.

Drei Hauptaspekte sind für unsere Gewerkschaft wichtig:

ARBEIT: Millionen von Arbeitsplätzen werden zerstört. Deshalb müssen wir Vollbeschäftigung, menschenwürdige Arbeit für alle, gesunde und sichere Arbeitsbedingungen, die Beendigung prekärer Arbeit und die Formalisierung informeller Arbeit anstreben.

ZAHLUNG: Der Anteil der Löhne und Gehälter (Lohnquote zu den Produktivitätsgewinnen) in der Weltwirtschaft ist seit Jahrzehnten rückläufig, und mit dieser Krise wird er wahrscheinlich weiter sinken. Mindestlöhne müssen überall gelten, das Recht auf Tarifverhandlungen für alle Beschäftigten muss gewährleistet sein, und das geschlechtsspezifische Lohngefälle muss beendet werden.

SOZIALER SCHUTZ: Milliarden von Menschen sind ohne sozialen Schutz geblieben und sind ernsthaft gefährdet, die Gesundheit und die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise zu schädigen.

Jetzt ist die Zeit für eine globale Zusammenarbeit zur Finanzierung des sozialen Schutzes für alle gekommen. Die Welt kann nicht den wichtigen Fragen den Rücken kehren, z.B. was jetzt aktuell oder beim Wiederaufbau einer integrativen und nachhaltigen Zukunft am dringendsten benötigt wird.

Durch den Ausnahmezustand im Ausland haben wir viele Aktivitäten verloren, die es wert sind, an diesem Tag gefeiert zu werden, wie zum Beispiel Jugendveranstaltungen, eine nationale Messe mit über 15.000 Arbeitern, das Pflanzen von 3.000 Bäumen und mehr.

Eine Aktion, die wir am Tag der Arbeit in Zeiten der Pandemie durchgeführt haben, ist die Erstellung eines Videoclips für ein Lied, das aus Dankbarkeit gegenüber den bulgarischen Ärzten geschrieben wurde. Das Video wird Bilder von bulgarischen Bürgern mit Plakaten oder Notizen enthalten, auf denen "Danke", "Ihr seid Helden", "Alles wird vorübergehen" und andere Worte zu lesen sind.

 

Was macht Dir persönlich Hoffnung in diesen schwierigen Zeiten?

Das Universum hat uns aufgehalten! Hat uns definitiv gestoppt. Es zeigt uns, dass wir den falschen Weg gegangen sind ... Lasst uns diese Tage zum Nachdenken nutzen, nicht nur über das Politische, sondern auch über das Geistig-spirituelle ...

Die Zeit des Nachdenkens ist gekommen, der Gebete, des Glaubens, dass wir, wenn die Gefahr vorüber ist, einen neuen, helleren, sinnvolleren Weg einschlagen müssen! (…)

Und jetzt werden wir daran erinnert, wie wenig wir brauchen. Um gesund zu sein, um zusammen zu sein. Danke für diese einfachsten Dinge - dass wir atmen, dass wir lachen, dass wir uns umarmen, dass wir uns küssen... dass wir hier sind! Um etwas zu tun, um etwas zurückzulassen.

Wir müssen der Pandemie auch für die Chance danken, die sie uns gibt!

Die Chance, zu uns selbst zurückzukehren, unsere Seele zu hören, die wahre Verbindung mit den Menschen um uns herum wiederherzustellen.

Wir werden nicht in Einkaufszentren einkaufen, wir werden nicht in Restaurants speisen, wir werden nicht demonstrieren, wir werden aufhören, unser Ego mit materiellen Vorteilen aufzupumpen.

Vielleicht werden wir erkennen, dass wir Menschen einen Wert an sich haben und nicht nur durch das, was wir haben!

Ich glaube, nichts ist zufällig!

Eine neue Zeit wird kommen! Diejenigen, die einfach, und bewusst leben können, werden sie betreten!

Mit Liebe! Und mit Glauben ...

Wir sind zu Hause ... Daran gibt es keinen Zweifel! Ich weiß, dass diese Situation für uns alle schwierig ist. Wir versuchen jeden Tag, Positives zu teilen, aber es ist klar, dass jeder auch negative Gedanken verspürt ... sie bekämpft, versteckt, verarbeitet, irgendwie ... Manche sagen: rette Dich selbst, beunruhigt nicht eure Lieben... Ängste, Zweifel, Paniken ...

Jeder besiegt diese Gefühle auf seine Weise... Das Wichtigste ist, zu erkennen, dass wir alle eins sind. Es ist einfacher, sich gegenseitig zu unterstützen als sich zu trennen. Zu lieben ist schöner als zu hassen! Aus diesem Grund drücke ich meine tiefe Bewunderung für das ganze bulgarische Volk aus, das in diesen schwierigen Zeiten Entschlossenheit, Mut und Hoffnung zeigt.

 

Es gibt auch Hoffnung in unserer Branche. Vor der Pandemie gab es in unserem Land einen enormen Mangel an qualifiziertem Personal. Aber jetzt sind viele Bulgaren, die in anderen Ländern in der Industrie beschäftigt waren, arbeitslos. Einige von ihnen kehren bereits auf der Suche nach Arbeit nach Bulgarien zurück. Es handelt sich um Arbeitnehmer mit Erfahrung im Baugewerbe. Jetzt ist es an der Zeit, ihnen Arbeit anzubieten, damit sie hier bleiben!

 

Und weil die Pandemie von China ausging, schließe ich mit einer chinesischen Weisheit: "Wenn der Sturm kommt, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen. Und was wir bauen werden, hängt von jedem von uns ab!

 

Das umfangreicher Interview in englischer Sprache finden Sie hier: