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Katholische Betriebsseelsorge
Diözese Rottenburg-Stuttgart
Alessandra Ehrlich. Santiano Theater
Aalen
15.7.2020

Kultur und Corona. Ein Interview mit Alessandra Ehrlich

Ein Interview mit der freischaffenden Schauspielerin und Autorin Alessandra Ehrlich

Alessandra Ehrlich studierte zunächst Soziale Arbeit an der KFH Aachen, dann Schauspiel an der Folkwang Universität der Künste in der Abteilung Bochum, wo sie 2009 ihr Diplom erhielt.
Als freischaffende Schauspielerin arbeitet sie an verschiedenen Häusern, wie dem Theater der Stadt Aalen, am Schauspielhaus Bochum, Schauspiel Essen, Jungen Theater Göttingen, Zimmertheater Rottweil, im Team vom Café Fuerte und am Theater Paderborn.
Regelmäßig heuert Alessandra als Matrose auf Segelschiffen an. Das hat sie 2013 zum einen inspiriert, ihr erstes Theaterstück „Mär und mehr. Von der See“ zu verfassen, zum anderen, 2017 das Unternehmen „Mär & Meer – Theater an Bord“ zu gründen, mit dem sie die Küsten entlang segelt. Bei der Finanzierung und Umsetzung wurde sie besonders aus dem Ostalbkreis unterstützt.
Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in gesellschaftlich relevantem Theater für Jugendliche. 2015 und 2018 hat Alessandra Ehrlich mit Gerburg Maria Müller die Stücke „Jungfrau ohne Paradies“ und „Fake Paradise“ verfasst und bundesweit auf den Weg gebracht. In beiden interaktiven Produktionen ist sie auf der Bühne zu sehen: als Johanna hadert sie, ob sie ihrem Freund Paul zum IS folgt oder ihm die Stirn bietet, als Jenny coacht sie die Menge in populistischen Methoden. Außerdem ließ sie sich 2016 als Multiplikatorin für die nachbereitenden Workshops ausbilden. Ihre Arbeit „Jungfrau ohne Paradies“ wurde 2017 für den Deutschen Engagementpreis nominiert und bekam im selben Jahr den Präventionspreis des Landes Baden-Württemberg.

Liebe Ala, erstmal danke, dass du Lust hast dieses Interview zu machen! Was war aktuell los als der Corona-Lockdown aufkam? Hattest du Projekte laufen? Vorstellungen? Engagements? Planungen?

Ehrlich gesagt hatte ich das komplette Jahr durchgeplant, nicht nur mit Tourterminen von „Moby Dick“, Mär und mehr. Von der See“ und „Fake Paradise“, sondern vor allem mit neuen Projekten. Für das TanztheaterMobil aus Aachen habe ich „Fischers Fritz“, ein Kinderstück über den Klimawandel und die dadurch bedingte Flucht geschrieben, da hätten die Proben gestartet. Und dann wäre ich für den „Jedermann“ am Theater Paderborn engagiert gewesen. Ich hätte eine Seminargruppe auf einem Segelschiff begleitet, ich hätte einige Workshops zum Thema Sprechtraining geleitet, mein Team und ich hätten auf mehreren Festivals gespielt, ich hätte…, ach lassen wir das. Wie meine Kollegin Kristine Walther treffend bemerkte: „Der Konjunktiv hat Hochkonjunktur“. Wobei sie das eher auf die momentane Planungsungewissheit bezogen hat.

 

Was ist in den letzten 12 Wochen passiert? Wie geht es dir?

Ungewissheit, Perspektivlosigkeit, Existenzangst. Das schwebt so über allem. Dann gibt es Momente von Zuversicht, vor allem, wenn die freie und kommunale Kulturszene zusammenrückt und sich gegenseitig unterstützt.

Der Start der Krise war für mich, als ich wortwörtlich aus dem fahrenden Zug ausgestiegen bin. Ich war von Aachen auf dem Weg nach Aalen, als meine Tour abgesagt wurde. Da bin ich also in Köln ausgestiegen und wieder zurückgefahren. Dann kam täglich eine Absage dazu. Für alles hatte ich volles Verständnis, ich will niemandes Gesundheit gefährden. Und meinen Optimismus kann so schnell nichts erschüttern. Dann kamen immer weitere Absagen, und, nur um das nochmal klar zu machen, das heißt: kein Job, keine Kohle. Egal ob du krank bist oder Sturmwarnung an der Schule herrscht oder eben Hygieneregeln greifen, gibt es üblicherweise keinen Ausfall. Wenn du Glück hast, steht im Honorarvertrag noch die Klausel, dass du 50% bekommst, wenn die Veranstaltung weniger als 7 Tage vorher abgesagt wird. Wenn sie 8 Tage vorher abgesagt wird, bekommst du nichts. Daher bin ich in ein ziemliches Loch gefallen, als auch noch meine Haupteinnahmequelle für dieses Jahr, das Theater Paderborn, den „Jedermann“ abgesagt hat. Ich habe mich sofort auf Erntehelfer- Jobs beworben. Nach einer Woche konnte ich aber aufatmen: die Leitung rief mich an und verkündete, dass sie 100% Ausfall auch für die Gastschauspieler*innen zahlen. Das finde ich eine grandios bemerkenswerte Haltung. Auch von den kleineren Trägern, mit denen ich zusammenarbeite, bekam ich anfangs finanzielle Zuwendungen. Statt Spargel zu stechen habe ich dann meinen Brüdern aufm Bau geholfen. Nun weiß ich, wie man Steckdosenlöcher bohrt und Schlitze für die Leitungen zieht, kann Zäune bauen und Mauern einreißen. Holz hacken hat mir in manchen Situationen sehr geholfen.

Zu den Absagen gesellten sich die vagen Aussagen: „Wir müssen mal gucken, abwarten, wir wissen es noch nicht.“ Auch da: volles Verständnis, die Veranstalter, Jobgeberinnen, Schulen sind ja selbst von der Ungewissheit betroffen und genervt. Denn die ist tatsächlich schlimm. Wie andere Kulturschaffende auch habe ich inzwischen Szenarien A, B, C, D, E, F, G entworfen. Kalkuliert, ob es sich lohnt, die Wiederaufnahmeproben von „Moby Dick“ auch für nur eine Veranstaltung zu machen. Wann ich Proben ansetze, dass dann nicht zu viel Zeit dazwischenliegt, wenn Vorstellung X ausfällt, Y aber vielleicht stattfindet. Produktionspläne erstellt, für den Fall, dass „Fischers Fritz“ geprobt und aufgeführt werden darf, mit Kontakt oder ohne Kontakt, vor wenigen Schüler*innen oder vor vielen Schüler*innen oder vor gar keinen Schüler*innen per Video. Doof, wenn es sich im finanzierten Ursprungskonzept um ein Tanztheaterstück mit Contact handelt, dass interaktiv an Schulen stattfindet.

An dieser ungewissen Situation hat sich auch nach 12 Wochen nichts verändert, da an vielen Veranstaltungsorten noch an dem Hygienekonzept gebastelt wird. Heute wurde zumindest die Entscheidung getroffen, dass wir „Fischers Fritz“ - in welcher Form auch immer – proben und im September zur Premiere bringen, vor 22 statt vor 140 Zuschauer*innen. Finanziell desaströs. Aber da es sich um ein Stück zum Klimawandel handelt, können wir leider nicht auf die lukrativere Alternative, in einem Flugzeug zu spielen, ausweichen.

 

Hast du Hilfen bekommen? Beziehungsweise sind es denn wirkliche Hilfen?

Die erste Hilfe habe ich von meinen Freunden und meiner Familie erhalten. Mit den Jobabsagen fielen auch meine Unterkünfte weg. Meine Eltern haben sofort angeboten, dass ich in mein altes Zimmer ziehen kann, was ich dankbar angenommen habe – auch mit 37 wirkt es immer wie eine Energiespritze, in das harmonische Haus der Kindheit und Jugend zurückzukehren. Gesellschaft statt Isolation fand ich eh angebrachter, Hungern und Frieren muss ich da auch nie. Telefonate und Videochats mit Freunden haben mich vom Trübsal abgelenkt oder zu neuen Taten inspiriert. Und auf den Baustellen wird es nie langweilig.

Glücklicherweise habe ich aus Hamburg Anfang April 2.500€ Soforthilfe für Künstler*innen bekommen, schnell und problemlos war das auf meinem Konto. Hut ab vor fixen Bearbeitung! Den Beitrag für die Künstlersozialkasse, der einkommensabhängig ist, konnte ich herabstufen lassen, das war ebenfalls eine Erleichterung. Da ich sparsam lebe, komme ich damit die nächsten Monate über die Runden, auch dank des oben erwähnten Ausfallhonorars.

Grundsätzlich finde ich es aber fragwürdig, dass die größer summierten Soforthilfen auf Betriebskosten abzielen, die ich nicht habe. Ein Arbeitszimmer kann ich nicht vorweisen, ich bin froh, wenn ich mir einen Wohnraum leisten kann. Und warum darf ich mir statt Arbeitsmaterial nicht etwas zu essen kaufen von der Soforthilfe? Dafür müsste ich dann Hartz IV beantragen. Notfalls werde ich das auch tun, aber ich bin aus gutem Grund freischaffend, selbständig, so unabhängig als möglich. Und wenn ich meinen Beruf ausüben darf, kann ich das auch sein.

Wie empfindest du den Umgang mit Kultur? Speziell jetzt aber auch schon vor Corona.

Die schnellen Hilfen von Bund und Ländern zu Beginn der Krise haben mich gefreut. Dass das Konzept nicht bis ins Detail durchdacht war, ist eben dieser Schnelligkeit geschuldet. Ich habe Glück gehabt. Viele meiner Kolleg*innen haben keinerlei Hilfe erhalten, da sie nicht in der Künstlersozialkasse sind – als kurzfristig beschäftigter Schauspieler gilt man als weisungsgebunden arbeitend, nicht als selbständiger Künstler. Und die Töpfe für waren schnell ausgeschöpft. Ganz schön bitter, vor allem für Familien. Da wurde mittlerweile nachgebessert, wenn auch noch nicht zufriedenstellend.  Ohne Betroffene gegeneinander ausspielen zu wollen, finde ich es traurig, dass Bildung und Kultur im Ranking um die Aufmerksamkeit nicht besser abschneiden. Überrascht bin ich nicht von der Haltung der Politik, die aktuelle Situation verschärft den eh schon geringen Stellenwert der Kultur. Überrascht bin ich vielleicht, dass es mich dann doch immer noch erschüttern kann, wie Lobbyismus zieht. Wenn ich die Wörter „Dividenden“ und „Solidarität“ in einem Satz höre, wird mir einfach nur schlecht. Da jammern einige auf ganz hohem Niveau, die nicht wissen, was Existenzangst bedeutet.

 

Wie findest du die Online-Angebote, Streaming-Vorstellungen der Theater?

Es gibt Theater. Und es gibt Film. Und es gibt gelungene Mischungen aus beidem. Streaming gehört für mich nicht dazu. Als Zuschauerin schalte ich nach wenigen Minuten ab oder überhaupt nicht erst ein. Außerdem bin ich völlig überfordert von dem Überangebot im Netz von Theatern, die nicht vergessen werden wollen. Als Künstlerin verstehe ich das, will ich nicht vergessen werden, aber auch nicht kostenfreie Streams von meinen Theatervorstellungen zur Verfügung stellen. Trotzdem habe ich nun einem Videoformat zugesagt. Aber lieber bastle ich an anderen Formen und nehme auch gelungene Formate im Netz wahr. Das Theater Rottstraße 5 aus Bochum, zum Beispiel, hat Monologe fürs Telefon gemacht. Habe ich gebucht und war begeistert. Das Theater K aus Aachen hatte letzte Woche Premiere im Freiluft- Theater – was war das schön, endlich wieder mit anderen Menschen live Akteure auf der Bühne zu erleben!

 

Wie geht es dir wenn du an die Zukunft denkst? Wie sieht die für dich aus?

Das wäre fantastisch, wenn ich das wüsste! Gegenwärtig hat sich für mich schon verändert, dass ich sesshaft geworden und in eine Wohnung in Aachen gezogen bin, nicht nur mit einem Rucksack voller Sachen, sondern sogar mit ein paar Möbeln, die ich geschenkt oder geliehen bekomme habe! Eine lange nicht gemachte Erfahrung für mich. Corona zwingt mich, zur Ruhe zu kommen. Tut gut. Fühlt sich für mich Reisende aber auch nach Stagnation an.

 

Gibt es etwas was du dir erhoffst? Als Folge der Krise vielleicht?

Ich liebe es, mit Menschen zu arbeiten. Gruppenprozesse zu gestalten. Im Ensemble zu spielen. In nahen Kontakt zu treten. Gerade bin ich müde, weiter an Konzepten zu arbeiten, die das umgehen sollen. Und ich hoffe auch, dass das nicht nötig ist. Auch wenn ich die letzten Wochen über Berufsalternativen nachgedacht habe – ich hoffe, dass auch das nicht nötig ist. Ich hoffe auf einen Energieschub, um nach der Krise für ein faireres System zu kämpfen – am liebsten auf der Bühne.

Liebe Ala, danke dir für diesen ehrlichen kurzen Einblick in dein Leben und dein so wertvolles und wunderbares Schaffen!

(Das Interview wurde am 02.06.2020 von Karolina Tomanek durchgeführt)